REPORTAGE: Ohne die Familie geht es nicht

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Die Menschen hinter der Buchmesse Saar

Es ist ein Samstagnachmittag Ende Mai und die Buchhandlung ist brechend voll. Mindestens zwanzig Personen stehen, sitzen, lesen und plaudern. Weitere flitzen dazwischen hin und her. Rufe, Lachen und manchmal ein alles übertönendes „Psst!“. Eine lebensfrohe Szenerie, in den Duft von Räucherstäbchen und Popcorn gehüllt. 


Drei Wochen bis zur Messe

Was wie der Traum jedes coronagebeutelten Buchhändlers scheint, ist das Herzensprojekt von Karsten Wolter. Der 50-jährige ist nicht nur Inhaber der Buchhandlung Drachenwinkel im saarländischen Dillingen, er ist auch Ausrichter einer Buchmesse. Die Online-Buchmesse Saar wird in drei Wochen stattfinden und wir befinden uns mitten in der Generalprobe. 


Am Theater gilt eine misslungene Generalprobe als gutes Omen. Hoffentlich ist das bei einer Buchmesse auch so – denn gerade läuft alles schief. Die Streaming-Software, die für die Übertragung der hundertfünfzig geplanten Online-Live-Lesungen eingesetzt werden soll, erweist sich als ungeeignet. 


Karsten Wolter ruft zur Krisensitzung vor die Ladentür. Mit dabei: Jan Schäfer und Benjamin Kiehn, seine IT-Spezialisten. Die Entscheidung fällt schnell. Eine neue Software muss her! Innerhalb der nächsten Tage muss der Buchhändler die nötigen Lizenzen beschaffen. Eine zusätzliche Technik-Probe wird für das nächste Wochenende angesetzt. 


Keiner der anwesenden Freiwilligen murrt. Alle sind immer noch gut gelaunt. Immerhin: Die Teams haben sich bereits zusammengefunden. Vier Gruppen, bestehend aus jeweils zwei Moderatoren und einem Techniker, betreiben die virtuellen Lesesäle. Ein Social-Media-Team soll eingehende Kommentare und Nachrichten beantworten, ein weiteres betreut den Online-Messetreffpunkt Gather Town


Zwei Wochen bis zur Messe


Der zweite Test verläuft erfolgreich. Die Software funktioniert, der Messechef ist erleichtert. „Ich lerne bei solchen Problemen jedes Mal etwas dazu.“ 

Er lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, wie es scheint.


In den zwei Wochen bis zur Messe stehen noch mehrere Online-Meetings an, an denen Messehelfer wie beteiligte Autoren teilnehmen können. Hier darf jeder Fragen stellen, man lernt sich kennen, Unsicherheiten werden ausgeräumt. 


Vier Tage bis zur Messe


„Hallo, liebes Team, anbei die letzten Infos für alle …“ So beginnt die Mail von Karsten Wolter, in der letzte Details geklärt werden: der endgültige Zeitplan, Leitfäden für Techniker und Moderatoren, wichtige Links.


Es wird auch nach Wünschen gefragt, denn die Helfer, die sich allesamt aus dem Stammkunden- und Freundeskreis der Buchhandlung rekrutieren, sollen über das Wochenende gut versorgt sein. 


Möchte jemand besondere Getränke, vielleicht Light oder Zero? Ist jemand Allergiker, Vegetarier, Veganer …?


Am nächsten Tag fahren die Wolters zum Großmarkt einkaufen. „Wir wollen, dass alle satt und zufrieden sind.


Ein Tag bis zur Messe


„Das Wichtigste“, lautet der Betreff der nun wirklich letzten Mail an das Team. Es geht um die Verpflegung, denn nicht nur ein Zelt, Kühltruhe und Bierzelt-Garnituren wurden vor dem Laden aufgebaut, auch die Imbissgastronomie neben dem Buchladen steht als Versorger bereit. Die Speisekarte wird als Anhang gleich mitgeschickt. Man darf so oft bestellen, wie man möchte und alles anschreiben lassen. Klingt traumhaft.


Karsten hat noch schnell die Versicherung seines Ladeninhalts für dieses Wochenende erweitert. Equipment der Helfer, welches über Nacht dort bleibt, ist versichert. 


Erstaunlich, was alles so kurzfristig möglich ist. 


Go Live! 


Es ist Freitagmittag, der 18. Juni und der Laden brummt mal wieder. Kunden müssen vor der Tür warten, können nur bestellte Waren abholen. Dafür zählt drinnen der Countdown auf einer großen Leinwand herunter ­– noch drei Stunden bis zum Start. Die Teams richten ihre Plätze ein: am hinteren Ende des Ladens, direkt vor der Bar, vor dem Fantasy-Regal und in der Spielzeug-Ecke. 


LAN-Kabel werden an jeden Platz verlegt, denn die Internetverbindungen der Lesesäle müssen stabil sein. Techniker Frank springt zwischen den Plätzen hin und her, prüft Anschlüsse, rückt Scheinwerfer zurecht. 


„Wie ist das Passwort“, schallt es von irgendwo. „Ich komme sofort!“, ruft Frank zurück. Er schwitzt unter seiner Atemschutzmaske, lüftet sie kurz. Darunter ein Lachen, keine Spur von Anspannung oder Stress. 


Die Aussicht, drei Tage bei hochsommerlichen Temperaturen in einem Buchladen zu verbringen, schreckt scheinbar niemanden. Wie schon bei der Generalprobe sind alle gut gelaunt und voller freudiger Erwartung. Manche sind aber auch nervös. Schließlich werden sie Lesungen moderieren und Gespräche mit bekannten Autoren führen, und das live im Internet, wo einen jeder sehen kann. 


Melanie hat sich gut vorbereitet. Für jede ihrer Moderationen hat sich die Dillingerin eingehend über die Autoren informiert und deren Bücher gelesen. Sie hat ihre Moderationstexte vorformuliert und übt gerade fleißig, damit sie ihr flüssig über die Lippen gehen. 


Auf eine Autorin freut sie sich besonders. „Simona Turini! Sie schreibt über den alltäglichen Horror. Ich liebe ihre Geschichten.“ 


Dass sie gleich mit ihr sprechen und sie über ihr neues Buch ausfragen darf, lässt sie die Schweißperlen auf ihrer Stirn vergessen. 


„Wir gehen jetzt live!“ Es ist 17 Uhr, die erste Lesung beginnt. Der Geräuschpegel nimmt schlagartig ab, alle sind hochkonzentriert, prüfen ein letztes Mal Licht und Mikros oder nehmen noch einen Schluck aus der Wasserflasche. 


Die vier Lesesäle starten jeweils um zehn Minuten zeitversetzt mit ihren Lesungen. Nun geht es auch bei Melanie los. Sie strafft die Schultern, atmet tief durch und nickt ihrem Techniker Tom zu. Der klickt auf Go Live. „Herzlich willkommen bei der Buchmesse Saar!“


Hundertfünfzig Mal wird man diesen oder einen sehr ähnlichen Satz an diesem Wochenende im Drachenwinkel hören. 


Der zweite Tag verläuft fast schon routiniert. Die Teams sind eingespielt, die vielen positiven Rückmeldungen von Autoren und Gästen geben Anlass zur Freude. Frische Croissants und Eiskaffee zum Frühstück sowie Essen vom Imbiss nebenan machen tatsächlich alle satt und zufrieden. 


Messechef Karsten ist an diesem Tag außer Haus. Im Theater von Saarlouis moderiert er fünf Live-Talks mit bekannten Autoren. Dass in seinem Drachenwinkel trotzdem alles läuft, macht ihn ein bisschen stolz. 


Auch der letzte Messetag wird weder von Wolken noch von Problemen getrübt. Körperlich macht die Hitze allen zu schaffen, doch niemand beschwert sich. Vor dem Laden werden Erfahrungen ausgetauscht – „Tad Williams war unfassbar nett!“ – und bereits Pläne geschmiedet: „Wenn Walter Moers mal bei uns lesen würde …“ 


Drinnen läuft alles perfekt bis zur letzten Lesung. Erleichterung, strahlende Gesichter und ein bisschen Wehmut bilden den Rahmen für die Abschlussveranstaltung, zu der alle ein letztes Mal den Go Live-Button ihrer Lesesäle betätigen. 


„Wir sehen uns nächstes Jahr!“, schließt der Messechef, und alle recken die Daumen in die Höhe. Ohne die Menschen – oder besser: ohne die Familie geht es eben nicht bei der Buchmesse Saar. 

(c) by Maja Simunic, 2021